Gleich am nächsten Tag planten wir eine zweite Tour per Velo. Aufgrund der Schliessung aller Sehenswürdigkeiten hatten wir durchaus Ideen für Alternativen. Diese hiess heute: Auf zu unserem Lieblingsreiscräcker-Hersteller Kingōdo, der das Geschäftsbüro mit Laden im Westen Tōkyos hat. Endlich war die Gelegenheit für einen Besuch gekommen. 😊
Von Akasaka bis zum Stadtteil Yayoicho waren es gemäss Google ca. 10 km, und bewaffnet mit dem guten alten Tōkyo-Atlas sowie Google Maps auf dem Handy radelten wir los. Das Wetter war sehr schön, allerdings blies ein eiskalter, sehr unerfreulicher Frühlingssturm. Reihenweise blies dieser die abgestellten „Mama-charis“, die Müttervelos mit mindestens einem Kindersitz, um. Ein bisschen Vorsicht war also angesagt.
Tōkyos grosse Strassen sind ja mehrheitlich sechsspurig. Die am linken Rand liegende Fahrbahn (es herrscht Linksverkehr), auf der auch die „Velospuren“ eingezeichnet sind, werden von Lieferanten, Taxis und anderen Zeitgenossen (z.B. denen mit Protzautos) als Parkfläche benutzt. Will heissen, dass man als Velofahrer einen Bogen schlagen muss. Das hat aber den Vorteil, dass diese Fahrbahn praktisch nicht zum Fahren genutzt werden kann, was die Angelegenheit dann wieder relativ sicher macht. Ein bisschen paradox, aber man gewöhnt sich rasch dran. Insbesondere, wenn man sich als Zürcher mit der alltäglichen Enge herumplagen muss, ist es mit der wunderbaren Weite in Tōkyo eine ziemliche entspannte Sache.
Ansonsten ist es gut, wenn man sich Zeit einplant. In der Regel radelt es sich auf den Gehwegen am besten, auch wenn die Metropole zarte, jedoch noch äusserst bruchstückhafte Ansätze einer Velopolitik zeigt. An den Seitenrändern der grossen Strassen sind neuerdings in blau und weiss Velokorridore eingezeichnet und über die grossen Kreuzungen dann mit blauen Pfeilen. Allerdings wird das von den übrigen motorisierten Verkehrsteilnehmern noch nicht so ganz ernst genommen… Gelegentlich taucht dann tatsächlich mal ein richtiger Radweg auf – und ist dann genauso plötzlich wieder verschwunden. Erinnert fast ein bisschen an Zürich. 😉
Zugegeben: Bei dunkelgelb noch rasch über eine Kreuzung von zwei riesigen sechsspurigen Strassen zu flitzen, braucht zu Beginn etwas Nervenkostüm. Andererseits sind einige Tokyoter Velofahrer auch ziemlich „robust“ und kommen einem auf der falschen Fahrbahnseite fröhlich entgegen.
Tōkyo ist aber einfach sehr riesig, und bei langen Strecken dauert es sehr lange, bis man sich da durcharbeitet. So ist und bleibt der ÖV das Verkehrsmittel Nummer 1. In den Stadtvierteln selbst fahren die Leute aber viel mit dem Rad herum, insbesondere wenn es flach ist.
Der Reiz, Tōkyo mit dem Rad zu erkunden, ist, dass man die Strecken und Charaktere der einzelnen Viertel sehr viel intensiver spüren kann, als wenn man aus der Metrostation steigt. Uns war zum Beispiel nicht bewusst, dass die Metropole insgesamt recht hügelig ist – in der U-Bahn merkt man das ja kaum. Jedenfalls strampelten wir einige Erhebungen hoch und runter, etwa vor und hinter Shinjuku.
Zudem gibt es diverse Hotspots, wie die grossen Bahnhöfe Shibuya, Shinjuku etc., in denen sich Menschen, Verkehr und Geschäfte drängeln. Dazwischen oder ein Stück weiter wird es dann plötzlich wieder ruhig und dörflich. Dort wo die Menschen wohnen, ist auch wieder normales Leben: Es gibt Supermärkte und alle Geschäfte für den Alltag, etwa Waschsalons, die man in Akasaka oder der Innenstadt nicht mehr findet. Und man darf auch sein Fahrrad überall abstellen – woanders ein No-Go. 🤨
Grundsätzlich wäre unsere Empfehlung, primär entlang der grossen Hauptstrassen – und auf dem Gehweg – zu radeln, wenn man grössere Strecken zurücklegen möchte. Denn im scheinbar wild gewachsenen Strassengewimmel mancher Stadtteile kann man sich hoffnungslos verirren. Dagegen stehen an den Hauptstrassen in regelmässigen Abständen Wegweiser und Stadtpläne, die ausgesprochen hilfreich sind.
Falls man die Orientierung aber im Griff hat, wie z.B. in Minato-ku, sind die kleinen Nebenstrassen doch super, denn dort gibt es keine Ampeln, und man kommt ohne Warterei superschnell voran!
Trotz vielen Schauens in die Karte und auf die Pläne schlugen auch wir einige Umwege während der Hinfahrt, und die vielen Ampeln sowie das ständige Prüfen der Karte kostete recht viel Zeit. Aber dann kamen wir tatsächlich am Kingōdo-Laden an, der unscheinbar inmitten eines Wohngebiets liegt. Die beiden Damen wunderten sich tüchtig, als wir den Laden betraten. Wir erklärten ihnen, dass wir seit 2009 Fans ihrer Reiscräcker sind, und übergaben einen in Japanisch geschriebenen, bebilderten Brief unserer Fangeschichte mit freundlichen Grüssen von uns. Diesen hatte ich vor geraumer Zeit mit Hilfe von Hiromi vorbereitet. Endlich konnte ich ihn abgeben. 😊
Im Laden haben sie natürlich das gesamte Sortiment an „Senbei“ (Reiscräckern), die wir probieren konnten. Es gab auch Sorten, die wir noch nicht kannten. Zudem wird auch „Bruchware“ verkauft, natürlich ein sehr guter Deal. Daher gab es für uns angesichts dieser Köstlichkeiten kein Halten mehr, und wir packten zwei Einkaufskörbe voll. Den Grossteil davon würden wir gleich zur Post bringen… 😊
Die ältere der beiden Damen packte uns noch zahlreiche Gratispäckchen ein, und es gab auch noch grosszügig Rabatt. Wie sich dann herausstellte war sie die Mutter des (jungen) Firmenchefs. Sie würde ihrem Sohn natürlich davon erzählen.
Vollbepackt radelten wir sogleich zum Postamt des Stadtviertels und hofften, dass die Kekse unbehelligt von Corona bald in der Schweiz ankommen würden. Kostproben werden gerne auf Anfrage und nach unserer Rückkehr ausgegeben, sobald normale soziale Kontakte wieder möglich sind.
Nach einer kurzen, höchst stürmischen Mittagspause in einem kleinen Park machten wir uns auf den Rückweg. Gemütliches Sitzen lag nicht drin, denn der eiskalte Wind wehte uns fast die im Supermarkt erworbenen Sushi-Boxen aus den Händen.
Für die Rückfahrt wählten wir eine andere, südlichere Route, via Yoyogi-Park. Von dort konnten wir dann flugs im besten Verkehrsgetümmel die Edel-Einkaufsstrasse Omotesandō herunterradeln. Vorbei an den berühmten Gebäuden der Stararchitekten für die Mode- und Luxuslabels und allem, was gut und teuer ist. Für Fotos blieb kaum Zeit, wir mussten uns ziemlich konzentrieren um nicht unter die Räder zu kommen…
Danach führte uns der Weg noch durch den grossen Aoyama-Friedhof. Und dann waren wir schon fast wieder zuhause.
Nach der Rückkehr und so viel Action hatten wir uns ein Bierchen verdient, und dazu suchten wir unsere Lieblingsbierbar Popeye auf. Diese liegt im Stadtteil Ryōgoku in der Nähe des Edo-Tōkyo-Museums, und um dorthin zu kommen, nutzten wir dann schon lieber die Metro, die natürlich gegen 17:30 Uhr rappelvoll war. Dagegen war bei Popeye an diesem Montag wenig los, und wir vermuteten schon erste Auswirkungen von Corona…
Jedenfalls konnten wir uns etwas durch die umfangreiche Karte mit 70 frisch gezapften Bieren arbeiten, hauptsächlich von japanischen Craftsbierherstellern wie BairdBeer, Shigakōgen, Isekadoya, YonaYona, Swan Lake, und viele mehr. Wie wir das schon von unserem Besuch von vor 5 Jahren kannten, gab es immer noch das „O tsukare sama“- Angebot zur Happy Hour (17-20 Uhr): Zu jedem bestellten Bier gibt es eine leckere Kleinigkeit zu Essen, auch für Veggies. Zum Beispiel ein superleckeres „Tofu-Caprese“. Ansonsten ist die Karte schon eher fleischlastig. Natürlich gibt es in Tōkyo zahlreiche andere Bierbars, zudem haben die grösseren der Kleinbrauereien inzwischen eigene Lokale. Popeye bleibt uns als älteste Craftsbierbar aber einfach am sympathischsten.
Überraschenderweise füllte sich dann das Lokal ab 20 Uhr rasch. Also doch kein Corona-Effekt, und für uns genau der richtige Moment für uns, um uns wieder auf den Heimweg zu machen.