Während unseres zweiwöchigen Aufenthalts in Hiroshima hatten wir ja ziemlich viel Zeit, und Ausflüge waren/sind nicht per se verboten. Oberstes Gebot heisst jedoch: Maske auf. Also nutzten wir mit dieser Dekoration schamlos die Gelegenheit, auch für Ziele, die mit dem Zug etwas länger dauern würden. Dazu gehören der Ort Takehara sowie die nicht weit davon entfernte kleine Insel Ōkunoshima. Um nach Takehara zu kommen, steigt man in Hiroshima in einen „Rapid“ der JR Kure-Line bis Hiro, und anschliessend in den Lokalzug nach Mihara.
Die Kure-Line gehört sicherlich zu den schönsten Zugstrecken in Japan. Sie führt an der Setonaikai, den Innlandsee entlang und bietet immer wieder wunderschöne Ausblicke auf das Meer. Dabei ist sie aber auch äusserst „entschleunigend“. Zudem gehen die Verbindungen über Tag nur stündlich. Man muss somit etwas Zeit mitbringen.
Abfahrt war in Hiroshima um 9:28 Uhr, und wir kamen gegen 11:10 Uhr in Takehara an. Von dort sind es noch ca. 10 Minuten zu Fuss bis zum sehenswerten historischen Stadtviertel etwas ausserhalb der heutigen Neustadt. Die Velos hatten heute mal einen Ruhetag und waren in Hiroshima geblieben.
Selbstverständlich (und wir können es nicht genug wiederholen…) war in Takehara alles völlig ausgestorben, sowohl im Städtchen selbst, als auch im historischen Viertel: Alle Läden geschlossen, bis auf einige wenige Bewohner keine Menschen in den Strässchen. Ein erneut merkwürdiges Gefühl…
Wir wanderten durch die stillen Strässchen und bewunderten die sehr gut erhaltenen, alten Gebäude aus der Edo-Zeit. Neu für uns war der dekorative, grau-blaue Anstrich vieler Häuser. Diesen hatten wir zuvor noch nie gesehen.
Das lokale Museum sowie die alten Häuser, die noch besichtigt werden können, waren natürlich zu. Immerhin konnten wir kurz die beiden Tempel anschauen, wobei auch dort kein Mensch zu sehen war. Vom Saiho-ji Tempel aus hat man einen schönen Blick auf die Stadt.
Im nahegelegenen Michi no Eki („Strassenstation“/Raststation) gingen wir vorbei, in der Hoffnung, dort noch etwas Essbares finden zu können, und hatten Glück: Die Raststätte war in Betrieb, und sogar das Restaurant war geöffnet. Aus Zeitgründen mussten wir uns aber mit dem Kauf einiger Vegi-Sushirollen und frischen „Amanatsu“, einer lokalen Zitrusfrucht begnügen, und dann auch rasch zum Bahnhof zurückkehren, um den nächsten Zug nicht zu verpassen.
Die Station Tadanoumi liegt nur zwei Stationen weiter entfernt (Richtung Mihara). Dort liefen wir rasch zur Schiffsanlegestelle, denn dort fuhr die Fähre nach Ōkunoshima, die heute auch Rabbit Island genannt wird. Eine kleine Insel, kaum zwei Kilometer lang und keinen Kilometer breit, auf der ca. 1000 wilde Kaninchen leben (s. auch Website zu Rabbit Island).
Beim Warten auf die Fähre betätigten Thom und ich uns mal wieder als Trainspotter und knipsten den Kure-Line-Zug, der sich durch das Schliessen der Schranke angekündigt hatte. Hier meine Version:
Aus Thom’s Perspektive sah das dann so aus:
Bereits das nagelneu gestaltete Ticket-Verkaufsgebäude an der Anlegestelle liess erahnen, wie viele Kaninchen-Fans es geben musste. Sehr, sehr viele. Nicht so in diesem besonderen Jahr: Nun waren es gerade mal eine Handvoll Passagiere, die das Schiff am frühen Nachmittag bestiegen. Das Allerbeste: Jede Partei hatte eine Riesentüte mit Säckchen voller Futterpellets erhalten, mit der ausdrücklichen Bitte, sie an die Tierchen zu verfüttern. Normalerweise kostet ein Tütchen YEN 200, aber da seit Corona die Touristen ausblieben, muss man sich um die Versorgung der Häschen Sorgen machen. Wir hatten also einen klaren Fütterungsauftrag. Wie hübsch!
Je näher wir an die Insel heranfuhren, umso unheimlicher wurde mir aber auch zumute: Was würde uns dort erwarten? Eine Meute ausgehungerten, wildgewordenen Kaninchen, die uns die Futtertüten aus der Hand reissen würden?? Blutrünstige Killer-Kanninchen, wie im Monty Python-Film „Die Ritter der Kokosnuss“? Oh Schreck!
Und tatsächlich: bereits am Pier hoppelte eine Herde auf die karge Schiffsladung neuer Inselbesucher zu. Die herzigen Langohren blieben aber ganz manierlich, machten artig-verfressen Männchen und warteten auf die Pellets. Jöööh-Effekt total!
Da wir uns vorgenommen hatten, die ganze Insel zu umrunden (ein Spaziergang von ca. vier Kilometern) mussten wir uns den ganzen Sack gut einteilen, und das war schon eine Herausforderung. Denn sobald (mindestens) ein Kaninchen unserer ansichtig wurde, hoppelte es in Windeseile auf uns zu – und wo einer war, waren es flugs mehrere, manchmal auch richtig viele. Das Rascheln von Tüten lockt sie natürlich aus allen Windrichtungen herbei.
Es machte Spass, sie zu beobachten. In der Regel frassen sie einträchtig nebeneinander die Ration, die wir ihnen hinwarfen. Manchmal gab es aber auch unsoziale Genossen, die andere wegbissen. Dafür zu sorgen, dass jedes etwas abbekam, war dann gar nicht so einfach.
Dass die Kaninchen auf dieser kleinen Insel überhaupt überleben können, ist ein Wunder – und der Fütterung durch die Touristen sowie einiger engagierter Einheimischer zu verdanken. Letztere ergänzen das Futter mit Gras, Kohl und Heu, und sorgen auch für frisches Wasser in den vielen Wasserschalen, die auf der Insel verteilt sind. Denn auf dem kargen Stück Erde gibt es nicht wirklich viel. Die wenigen Grasflächen können gar nicht so schnell wachsen, wie sie von den Kaninchen abgefressen werden. Andererseits sahen die Kaninchen allesamt durchaus gesund aus: Fast alle hatten ein glänzendes Fell, waren genährt und wirkten auch munter und aktiv.
Vom Pier gibt es eine kurze Busverbindung zu einem Hotel, das dort noch besteht, und daher wird man angehalten, die Tierchen nicht auf der Strasse oder am Strassenrand zu füttern, damit keines unter die Räder kommt… Es gibt zudem einen Veloverleih, und auch hier soll man hübsch vorsichtig fahren.
Warum die Kaninchen sehr untypisch und in dieser grossen Zahl auf Ōkunoshima leben, hat allerdings einen ernsten und ziemlich düsteren Hintergrund. Denn auf der Insel wurde von 1926 bis zum Ende des 2. Weltkriegs Giftgas produziert. Gemäss des sehr ausführlichen und informativen Wikipedia-Artikels zu Ōkunoshima sind die Kaninchen Nachkommen der Versuchstiere, die für diese Zwecke auf den lokalen Bauernmärkten zusammengekauft worden waren.
Offenbar hat Japan Giftgas während des 2. Weltkriegs in China eingesetzt, und es ist zu vermuten, dass dieses von der Insel stammte. Zudem starben zahlreiche Menschen, sowohl Zwangsarbeiter aus Korea als auch der lokalen Bevölkerung, die als Hilfskräfte eingesetzt worden waren, während der Produktion der Gase, bzw. trugen Langzeitschäden davon.
Nach Ende des zweiten Weltkriegs wurden die Anlagen zerstört, und die Insel musste dekontaminiert werden. Reste der gefährlichen Stoffe sollen aber immer noch an diversen (tiefen) Stellen lagern.
Gerne hätten wir mehr Details zu diesem heiklen Kapitel der japanischen Geschichte erfahren, jedoch war das Giftgasmuseum auf der Insel ebenfalls geschlossen. Die zahlreichen Ruinen und Überreste der historischen Gebäude waren jedoch noch sichtbar und Tafeln gaben zumindest die wichtigsten Information dazu.
Eigentlich hatten wir auch noch geplant, den Hügel mit 360°-Rundblick zu besteigen, aber als wir den Weg nach oben einschlagen wollten, rief uns eine Japanerin hinterher, dass der Weg bereits seit zwei Jahren nach den starken Regen-Unwettern bzw. den Taifunen Prapiroon und Jebi 2018 gesperrt ist. Schade, aber vielleicht auch zum Glück, denn sonst hätte es mit unserer Rückkehr nach Hiroshima noch länger gedauert (mehr dazu später).
So umrundeten wir die Insel, fütterten die Kaninchen, und sahen uns die Ruinen und weitere Überbleibsel an. Etwa einen Tennisplatz des Hotels, der auch nicht mehr so ganz gut gewartet wirkte… Hatte der Taifun ihm ebenfalls zugesetzt?
Insbesondere das im Verfall stehende Gebäude der ehemaligen Stromerzeugung war schauerlich beeindruckend und erinnerte uns stark an den Besuch der Insel Hashima (auch Gunkanshima) im Dezember 2017 in Nagasaki.
Dann waren wir wieder am Pier und die Pellets waren verfüttert. Ein paar Kaninchen versuchten noch Ihr Glück bei uns, hoppelten dann aber zu den anderen paar Menschen, die auf die Fähre warteten, und die noch etwas Fressbares übrig hatten.
Die Fähre setzte uns in Tamanouchi wieder ab. Es war die letzte Verbindung von der Insel gewesen, wie wir dann bemerkten… Glück gehabt. Es fuhr dann auch gleich anschliessend (um 17:40 Uhr) ein Zug zurück nach Hiroshima.
Genau dieser Zug, ein „Local“, war jedoch der langsamste des ganzen Abends, und wir sassen ab Einstieg fast drei Stunden und ziemlich durstig und hungrig im Zug, bis wir in Hiroshima wieder ausstiegen. Ein solches Mass an Entschleunigung hätte es zum Abschluss dieses interessanten und vielfältigen Tages nun doch nicht gebraucht…