Ise-shi im Dauerregen

Am Morgen war es Maebashi immer noch ziemlich kalt, aber zum Glück hatte es aufgehört zu schneien-regnen (bzw. irgendwas dazwischen). Trockenen Fusses konnten wir unsere Koffer und Birdys die 200 Meter vom Hotel zum Bahnhof schieben. Dort tauschte ich noch die bereits gekauften Fahrkarten um. Ursprünglich hätte die Fahrt bis Toyohashi gehen sollen. Von dort wollten wir mit einem kleinen Bähnchen, einem Bus und der Isewan-Fähre über die Ise-Bucht fahren. Angesichts der unterirdischen Wetterprognosen entschlossen wir uns kurzfristig, die mit viel Umsteigen verbundene Tour zu streichen – leider. Der Shinkansen würde uns nun von Takasaki via Tokyo nach Nagoya bringen, und ein JR-Expresszug dann nach Ise-shi.

Das ging alles ziemlich flott und problemlos, und am frühen Nachmittag waren wir da. Zu früh, um unser Zimmer im Business-Hotel „Sanco Inn Ise Ekimae“ zu beziehen. Also tranken wir erst einmal einen Kaffee im hübschen Terrace Café, direkt gegenüber des Bahnhofs und liefen dann – mit Schirm bewaffnet los zum äusseren Schrein, dem Gekū. Das Wetter war nicht wirklich besser geworden. Es niesel–regnete vor sich hin.

Das kleine Städtchen Ise in der Präfektur Mie ist ein Wallfahrtsort und beherbergt den höchsten Schrein Japans, den Ise-jingū. Daher ist das Städtchen der shintoistische Pilgerort schlechthin in Japan, und wird jährlich von circa 6 Millionen Menschen besucht. Er ist der Göttin Amaterasu gewidmet, die auch als Ahnherrin des japanischen Kaiserhauses gilt. Der Schrein setzt sich zusammen aus dem inneren Schrein Naikū (dem Hauptheiligtum), ca. 6 km ausserhalb, sowie dem äusseren Schrein Gekū, in der Stadtmitte.

Der Shintō (Shintoismus) ist für durch die westliche Kultur geprägte Menschen nicht sehr leicht zu verstehen. Grundsätzlich klingt es erstmal einfach: Alles wird durch Kami, Geister oder Götter geprägt, die in Tieren, der Natur, Steinen oder Gegenständen heimisch sind. Glaubensregeln gibt es nicht.

Thom und ich besuchen diese Orte, um sie als Touristen anzuschauen, und wir begegnen ihnen mit dem gebührenden Respekt. Jedoch ist es schwierig, die Bedeutung dieser Stätten nachzuvollziehen. In einem Schrein werden Gottheiten, Geister oder ihre Symbole „eingeschreint“, aber was heisst dies? Leichter ist es zu verstehen, dass in einem mächtigen, uralten Baum oder einem Felsen ein Kami, also ein Geist oder Gott, zuhause ist. Auch war uns auf den ersten Blick der Unterschied zwischen Schrein und buddhistischem Tempel nicht immer klar. Es gibt zwar diverse eindeutige Indizien wie z.B. die gefalteten Papierstreifen (Shide) oder die Strohseile (Shimenawa), bzw. im Tempel diverse Statuen des Buddha oder Amida-Buddha. Inzwischen fällt uns die Zuordnung etwas leichter.
Ise ist jedenfalls klar Shintō, der sich zudem noch durch einen besonderen, puristischen Stil, dem Shinmei-zukuri (神明造) auszeichnet.

Wegen des Regens und der fortgeschrittenen Tageszeit waren nicht mehr viele Menschen unterwegs, und alles wirkte dadurch sehr friedlich und geheimnisvoll.

Für die Brunnen, an denen man sich vor dem Beten am Schrein rituell die Hände und den Mund spült, hatte man sich bereits eine spezielle Corona-Variante ausgedacht: Das Wasser aus dem Brunnen wurde über eine hölzerne Konstruktion in kleinen Einzel-Rinnsalen abgeleitet. Gute Idee!

Auf der kleinen Seebühne werden bei Schreinsfesten Vorführungen (etwa rituelle Tänze usw.) geboten. Im Regen bot sie einen noch verlasseneren Eindruck… Einige Wege und Bereiche waren zudem abgesperrt. Ob wegen Corona oder regulär war uns nicht ersichtlich.

Überhaupt sind die Sitten streng auf dem vollständig kontrollierten Gelände. Überall ist Videoüberwachung, und in kleinen Häuschen sitzen zur Ergänzung noch menschliche Aufpasser und sorgen dafür, dass z.B. das strenge Fotografierverbot direkt vor dem Heiligtum eingehalten wird. Keine Chance für einen Schnappschuss. Den kann man nur von irgendeiner anderen, eher ungeeigneten Stelle knipsen…

Ein weissbekleideter Priester war mit Schirm eilig zwischen dem Haupt- und den beiden Nebenschreinen unterwegs. Ein weiterer Shintō-Priester in seinem traditionellen Gewand und Hut sass halbmeditierend in einem kleinen Nebengebäude, und schien auf Aufträge der Besucher zu warten – die da nicht kamen. Sowieso war es bereits 16:30 Uhr, und er würde bald Feierabend haben.

Zuerst wunderten wir uns etwas über die grosse, mit weissen Steinen ausgelegte Fläche neben dem Hauptschrein, bis uns klar wurde: Das musste der Ausweichplatz für die regelmässige Erneuerung des Schreins sein.

Alle 20 Jahre werden die Schreinsgebäude abgerissen und durch einen komplett identischen Neubau ersetzt. Ein grosser Aufwand. Um dies zu erleichtern, gibt es dafür eine zweite Fläche. Wie wir später in einem Video sahen, ist der dann stattfindende Anlass der „Umschreinung“ ein ganz besonderes Ereignis mit grossem Ritus, inklusive Beteiligung des Kaiserhauses.

Wir besuchten noch die beiden anderen Schreine: den Kaze-no-Miya sowie dem Tsuchi-no-Miya. Ersterer ist zwei Wind- und Regen-Kami geweiht – oh, wie passend zu diesem Tag! 😒

Danach machten wir uns rasch auf den Rückweg, denn langsam waren wir etwas durchgefroren und hungrig, denn das Mittagessen war ja wegen der Zugsfahrt ausgefallen. Ein kleines Restaurant direkt bei unserem Hotel hatte uns angesprochen, und wir wurden dort freundlich empfangen und am Tresen platziert. Der Clou: die gereichten Frischfische bzw. die Frischmuscheln musste/durfte man selbst auf einem Tischgrill braten – auch für uns eine Premiere. Wir schwelgten in den – zugegeben wenig vegetarischen – Köstlichkeiten. 😊

Dazu tranken wir das lokale Craftsbier von Ise-Kadoya (sehr empfehlenswert), und zum Abschluss probierten wir endlich mal einen Sake, der uns in der traditionellen Form „Glas im Holzkästchen“ serviert wurde: Das Glas wird so voll gegossen, dass es noch ca. 1 cm im Sake schwimmt. Das kannten wir zwar schon, aber warum das gemacht wird, müssen wir bei Gelegenheit noch herausfinden.

Am nächsten Tag war das Wetter ebenfalls regnerisch, und die Wetteraussichten versprachen auch nichts Gutes für diesen Tag. Da es zu Beginn trocken blieb, packten wir mutig unsere Birdys aus und radelten die 6 Kilometer zum Naikū, dem inneren, bedeutenderen Schrein.

Natürlich waren wir grade angekommen und hatten einen Abstellplatz (Laternenpfahl am Flussufer) für die Velos ausfindig gemacht, als es wieder anfing zu regnen. Dies sollte sich dann hartnäckig halten bis zur Abfahrt am nächsten Morgen – in Variationen zwischen leichterem Nieselregen bis Bindfadenregen. Daher behielten wir auch unsere Regenhosen für den Rest des Tages lieber an.

Zwar ist Regen ja nicht per se schlimm, aber zum Fotografieren und gucken in höchstem Masse unpraktisch. Und da auch meine Jacke leider nicht mehr ganz wasserabweisend ist, kaufte Thom mir einen der billigen japanischen Plastikschirme, sonst wäre ich total durchnässt gewesen. Damit war dann wenigstens auch noch die Kamera etwas geschützt.

Die Strasse zu einem Schrein ist traditionell mit zahlreichen Geschäften und Souvenirshops geschmückt. In Ise hat man diese namens Oharaimachi sehr hübsch als Einkaufsstrasse der Edo-Zeit mit Häusern in traditionellem Stil gestaltet. Auch wenn es ziemlich touristisch war: es ist sehr hübsch gemacht und uns gefiel es, zumal die vielen Läden und Restaurants auch qualitativ recht hochwertige Dinge anboten, und nicht den üblichen Ramsch. Offenbar steht ein überlegtes Konzept dahinter. Die Okage Yokocho ist dann dass „Fressgässchen“ mit zahlreichen Restaurants und Verpflegungsständen.

Trotz des Regens waren einige Leute unterwegs, jedoch liessen die riesigen Parkplätze ahnen, dass da normalerweise ganz andere Massen unterwegs sind. Ise ist der meistbesuchte Schrein Japans und auch ein Touristenmagnet, daher hat uns dies bisher immer von einem Besuch abgehalten. Nun erlebten wir ihn nun in der unfreiwilligen Zwangspause. Und Thom und ich waren an diesem Tag die einzigen westlichen Touristen weit und breit.

Zum Schreinsgelände geht man über die schöne Holzbrücke, die den heiligen Isuzu Fluss überquert. Rechter Hand blickt man auf Stelzen im Wasser, deren Bedeutung uns unbekannt blieb. Vielleicht eine Brücke für die Götter?

Zudem ist es wichtig, auf der jeweils rechten Seite zu laufen – ungewohnt, da in Japan ja Linksverkehr herrscht. In der Mitte des Wegs soll man zudem nicht laufen, denn diese Spur ist für die Götter bestimmt.

Der schöne Garten bzw. Park war vorbildlich gepflegt, und wir waren beeindruckt von den mächtigen, mehrere hundert Jahre alten Bäumen auf dem Weg zum Schrein.

Auch im Naiku gilt ein strenges Fotografierverbot am Hauptheiligtum, und wir konnten auch hier nur einige ähnlich gestaltete Nebengebäude ablichten. Naja, wegen der Nässe machte das Fotografieren sowieso keinen richtigen Spass (zumindest mir nicht).

Zurück an der Oharaimachi-Strasse suchten wir das Restaurant der Ise-Kadoya-Brauerei auf, wo man ein feines, günstiges Mittagsmenü (mit „kaki fry“, also frittierte Austern!) plus ein Tasting-Set der Biere bekommt. Sehr lecker, sowohl die feste Nahrung wie auch die flüssige. 😊

Wir liessen uns Zeit beim Essen, und drehten dann nochmals eine Runde um die Okage Yokocho, in der Hoffnung, der Regen würde vielleicht noch etwas nachlassen. Leider war dies nicht der Fall, im Gegenteil, und es half nichts: Wir würden uns auf die ziemlich nasse Heimfahrt machen müssen.

Zwar war der Rückweg über die Strasse etwas besser, da der Gehsteig, auf dem wir so schnell wie möglich entlangflitzten, breiter war, aber trotzdem brauchten wir fast 45 Minuten in strömenden Regen, bis wieder durchgeweicht wieder im Hotel standen. Was uns in Ise auffiel: Die Strassen sind breit, die Gehwege schmal, und die Ampelphasen bis zum Grün für Fussgänger (und Velofahrer) scheinen endlos zu dauern. Wir sind halt auf dem Lande, wo alles aufs Auto ausgerichtet ist.

Nach diesem doch ziemlich feuchten Tag mussten wir uns erstmal wieder im hoteleigenen Bad aufwärmen, was zwar wieder mit Nass verbunden war, aber doch in etwas angenehmer temperierten Form. Danach sah die Welt zumindest für mich wieder etwas positiver aus, obwohl die Aussichten auch für den nächsten Tag nicht gut waren. Und leider sind die japanischen Prognosen ziemlich zutreffend, sogar auf die Stunde genau. Immerhin war ab dem übernächsten Tag wieder Sonnenschein vorausgesagt, und das war die Hauptsache. Denn für das Programm der nächsten Tage war uns das noch etwas wichtiger.

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